„Es
liegt nicht an der Religion. Im nahen Osten haben Christen oft die
gleichen Traditionen wie die Muslime. Es liegt also an der Kultur,
und die wird nicht religiös geprägt, sondern räumlich.“

So
ähnlich habe ich es neulich in einem Bericht gelesen. Es gab gleich
Zustimmung, dort gäbe es in Manchem wirklich keinen Unterschied
zwischen Christen und Muslimen. In der Beschneidungspraxis von
Mädchen, in der fehlenden Gleichberechtigung von Frauen, im Hass auf
Homosexuelle und so weiter.

Das sehe ich auch so. Aber woran
liegt das?

Ich habe mich im Netz umgesehen und gefunden, Wiki
unterteilt klar in jüdische, christliche und muslimische Kultur. Es
scheint also einen Zusammenhang zwischen Religion und Kultur zu
geben.

„Von der
Wortbedeutung her gehörten Religion und Kultur immer zusammen: Das
lateinische „colere“ stand für (Land) bewohnen/ bebauen,
pflegen/ schmücken, (Göttliches) verehren. Während das Nomen
„cultura“ noch im Mittelalter neben landwirtschaftlicher
Kultivierung auch religiöse Verehrung bezeichnete, ist letztere
Dimension heute nur mehr im Wortstamm „kult-“ (von lat. „cultus“,
einem zweiten mit colere zusammenhängenden Nomen“) vorfindbar:
Kult, Kultus, kultisch etc.“
Das habe ich ausgerechnet auf einer
christlichen Seite gefunden.


Aber
gibt es mehr als einen Zusammenhang aus der Wortbedeutung? Die
Kirchen scheinen das so zu sehen. Sie haben extra ein Institut für Kultur und Religion gegründet, um „Beratung,
Training und Workshops für Führungskräfte und Mitarbeitende in
Kirche und Gemeinde, Diakonie und Caritas, Schule und Hochschule“
anzubieten.

Aber auch einfache Beobachtung macht uns schon
klar, Religion hat einen starken Einfluss auf die Kultur der
jeweiligen Gemeinschaft. Es geht auch gar nicht anders. Wenn Juden
zumindest einen Teil ihrer 613 Mitzwot ernst nehmen, kann das gar
nicht ausbleiben. Ähnliches gilt für Christen und Muslime analog
und natürlich auch für andere Religionen. Das betrifft alle
Lebensbereiche. Bei der Kleidung müssen die einen bestimmte
Kopftücher tragen, andere diverse Hüte und Hütchen. Beim Essen
müssen die getrennte Töpfe für die Zubereitung der Speisen haben,
welche dürfen kein Schweinefleisch essen, welche keine Kühe. In Manchem sind sich wieder alle einig. Beim Hass auf Homosexuelle, beim
Fehlen sexueller Selbstbestimmung, bei der untergeordneten Rolle der
Frau.

Kultur
wird also religiös geprägt, nicht räumlich. Wenn Christen in
muslimischen Ländern ähnliche Praktiken wie Muslime pflegen, liegt
das zum Einen daran, dass sie in der starken Minderheit sind und
historisch gezwungen waren, sich anzupassen, zum Anderen an der
Ähnlichkeit der beiden Religionen.

Andererseits verhalten
sich Angehörige der gleichen Religion in unterschiedlichen Ländern
und Gesellschaften auch unterschiedlich. In manchen sind sie
toleranter, in anderen fundamentaler. Während das Christentum in
Europa immer mehr verweltlicht und langsam Toleranz einzieht, nimmt
es in Afrika und Südamerika noch eine breite Rolle in der
Gesellschaft ein und ist entsprechend selbstsicher und fundamentaler.

Für
mich ergibt sich daraus, Religion und Kultur bestimmen sich
wechselseitig. Je größer der Einfluss von Religion auf eine
Gesellschaft, um so größer auch der Einfluss der Religion auf die
Kultur. Umgekehrt lässt sich sagen, je weniger Einfluss die Religion
auf die Gesellschaft hat, um so größer der Einfluss der Kultur auf
die Religion.

Daraus können wir mindestens zwei Lehren
ziehen.


1.
Es ist nicht sinnvoll, den Einfluss von Religion auf unsinnige
gesellschaftliche Praktiken und Sitten, besonders in stark religiösen
Ländern, damit relativieren zu wollen, dass diese nicht religiöser,
sondern kultureller Natur wären. Es ergibt sich lediglich die
Frage, ob Religion ursächlich oder über die herrschende Kultur nur
indirekt Verantwortung übernehmen muss.

2. Es gilt für jede
Gesellschaft einen kritischen Punkt zu überwinden. Den Punkt, an dem
der Einfluss von Religion auf die Kultur noch größer ist als der
von Kultur auf Religion.

Das bedeutet leider nicht, ab
diesem Punkt läuft alles von selbst in Sachen Verweltlichung. Wir
müssen im Gegenteil immer wachsam sein, dass sich diese Entwicklung
nicht wieder umkehrt.
Es bedeutet aber, dass ab diesem Moment die
Chancen einer Gesellschaft, sich statt am vermeintlichen Willen von
Göttern an den Interessen der Menschen zu orientieren, enorm steigt.

Oder, ganz einfach gesagt, es bedeutet, dass diese
Gesellschaft menschlicher wird.