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Heute, meine Piratenschar, bin ich stolz, euch einen Gastbeitrag im Wort zum Freitag präsentieren zu können. Falko Pietsch, einer der besten Slamer, hat folgenden Text dafür zur Verfügung gestellt. Etwas länger, ja, aber es lohnt sich unbedingt, den auch zu lesen:
Man erkennt die guten Menschen am Rentner-Beige über der schlaffer werdenden Haut, an der immergleichen Schiebermütze – und dem absoluten Mangel an Takt: Die Zeugen.
Sie praktizieren eine Form der Öffentlichkeitsarbeit, die in den 1920ern erfunden wurde, um Abonnenten für Zeitungen und Zeitschriften zu werben: Haustürvertretung.
Kurz nach der Wende war die Methode vielleicht gerade noch so en vogue, um naiven Rentnern Staubsauger, Kaffeefahrten und Rheumadecken anzudrehen. Statt wie jeder andere Anbieter dubioser Inhalte mit der Zeit zu gehen und über irgendwelche halbseidenen Datenbanken e-mail-adressen zu organisieren oder gleich die Cloud anzuzapfen, klingeln sie ungebeten an der Tür und stecken einem Heftchen minderer Qualität zu. Kurz gesagt: Klingeln und Vollabern ist dermaßen 1992.
Andererseits sitzen die Zeugen Jehovas seit 1914 auf gepackten Koffern und warten auf die Apokalypse. Wenn das irdische Leben ohnehin jederzeit endet – warum noch am Zeitgeist orientieren?
Zu hause ist man nicht vor ihnen sicher, aber auch nicht an öffentlichen Plätzen. Jede zweite Kreuzung, Fußgängerzone und Haltestelle haben sie okkupiert; selbst vor den Trutzburgen der Wissenschaft schlagen sie Wurzeln: An Bibliotheken und Universitätsgebäuden. Ich werte das als dreistes Manöver, ja, als Angriff.
Prinzipiell befürworte ich ja, dass Menschen den Weg zur Bibliothek finden. Sie sollten aber auch REINGEHEN und LESEN. Davor stehen zu bleiben allein hilft nicht.
„Wir haben die Frohe Botschaft für Sie. Sind sie an der Wahrheit interessiert?“
„Gern, immer. Und sie meinen, sie können mir da weiterhelfen?“ gab ich zurück.
Die beiden älteren Damen reagierten freudig auf mein scheinbares Interesse. Was mich in der Annahme bestärkte, dass es Menschen gibt, die Ironie selbst dann nicht erkennen, wenn sie ihnen mit nacktem Arsch voran ins Gesicht springt. Jedenfalls war ich auf dem Weg zum Abendessen bei einem befreundeten Paar und ohnehin zu früh dran. Da konnte ich mir doch fünf Minuten Zeit nehmen für „die Wahrheit“, oder?
„Fragen sie sich denn gar nicht, ob es einen Schöpfer gibt, der uns liebt?“
Ich persönlich fand es eigentlich schon immer wichtiger, dass man Familie und Freunde hat, denen man vertrauen und auf die man sich verlassen kann. Für den kafkaesken Über-Vater der Bibel war in meinem Weltbild daher nie Platz und er hat mir auch nie gefehlt.
Aber gut.
„Sie meinen, Gott kann uns helfen? Ja? Bei Erderwärmung und Euro-Krise?“ Mühsam verkniff ich mir die Frage, ob Gott auch was gegen den Papst unternehmen könnte. Man soll nicht zu viel verlangen. Erstmal Weltfrieden… klein anfangen.
„Ja, sehen sie: Die Katastrophen, die wir derzeit erleben – das sind die Vorboten auf das Reich Gottes. Die Erdbeben und Tsunamis, die Kriege und der Hunger. Jesus kehrt bald wieder und wird die Gerechten ins Paradies führen.“
„Das find ich klasse. Wäre es nicht nett, Jesus käme jetzt schon, würde den Leidenden, Hungernden und Obdachlosen ihr Elend ersparen und sie geradewegs durch die goldenen Pforten geleiten?“
„Es wird schon bald passieren. Die Leiden sind eine Prüfung, die Gott uns gibt. Wir müssen IHN erkennen und in seinem Geiste leben, um Erlösung zu finden.“ Ihre Begleiterin lächelte bestätigend und beinahe vorfreudig.
„Das klingt mir etwas zu abstrakt. Was genau muss ich denn tun?“
„Lesen sie die Bibel. Nehmen sie sich das Wort Gottes zu Herzen.“
Fange ich jetzt eine Diskussion mit ihr an, dass die Bibel ja doch zweifelsfrei
Menschenwerk ist? Dass es von geschätzten dreißig Evangelien ganze vier ins Neue Testament geschafft haben? Dass die Schriften von Thomas, Philipp und gar vom Heiligen Petrus vernichtet wurden – immerhin: War er, Petrus, nicht Jesu liebster Apostel und erster Papst? Was, wenn ich ihr vom Evangelium der Maria Magdalena erzähle und ihrer alles andere als platonischen Beziehung zum vermeintlichen Jesus? – Wird die fromme Zeugin sich dann das Buch der Offenbarung in die Ohren stopfen und im Kopf rasch das Vater-
Unser aufsagen?
„Wir dürfen uns nicht dem verdorbenen Zeitgeist hingeben und all den Lastern. Gott will nicht, dass wir Unzucht treiben, uneheliche Liebe und… na, sie wissen schon, … diese Schwuchteln. Das werden ja auch immer mehr.“
Ich simulierte Verwunderung: „Ach, Sie meinen, Homosexuelle kommen nicht ins Paradies?“
„Ich bitte sie, die sind doch krank!“ entfuhr es ihr, erschrocken über mein Unwissen. Die zweite im Bunde schüttelte sich, als müsste sie sich von dem Gedanken befreien. Und hastig blätterten sie synchron in ihren Bibeln.
„Sie haben Gott nicht erkannt. Sie trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung. Sie sind voll Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit. Wer so handelt, verdient den Tod. … Römerbrief, 1,26.“
Stolz und erleichtert tippten sie nachdrücklich auf die betreffende Seite. Ich konnte ihre Freude nicht ganz teilen.
„Gott liebt also nicht alle Menschen auf die gleiche Art?“ fragte ich enttäuscht.
„Freilich nur die, die nach seinen Geboten leben. Er hat Mann und Frau gemacht, damit sie einander lieben und Kinder machen können. Alles andere ist gegen seinen Plan und widernatürlich.“
„Sind wir nicht alle seine Geschöpfe?“
„Ja, sicher.“
„Die Tiere und die Menschen?“
„Ja, sicher.“
„Und hat er uns nicht auch mit Trieben und Instinkten ausgestattet, damit wir
überleben?“ „Ja, alle Kräfte im Menschen und in allem, was lebt, kommen von Gott.“
… „Wenn doch aber bislang bei über 90% aller Säugetierarten mitunter homosexuelles Verhalten beobachtet wurde? Kommt das dann nicht auch von Gott? Und ist es dann nicht der Natur entsprechend?“
Für eine Sekunde dachte ich, jetzt hätte ich die Zeugen
bei den Eiern. Mich überkam ein innerer Vorbeimarsch. Wenn alles Gottes Schöpfung ist, dann muss doch auch all das gut sein, was Gott geschaffen hat? Da kann es doch unter denkenden Menschen keine zwei Meinungen geben!
„Die Tiere kennen nicht Gottes Gesetz. Sie haben keine Vernunft. Der Mensch aber kennt Gottes Wort und muss seine Triebe zügeln.“ Diese Damen waren schlagfertig, gut trainiert.
Zugegeben. Mich streifte das Bild, wie man ihnen den Kopf aufgeflext haben musste, um drinnen kräftig durchzubohnern; dann zwei Bibeln rein als Dämmmaterial gegen die Kälte und wieder zugemacht. Meine Blicke suchten ihre Schläfen unauffällig nach Schweißnähten ab.
„Woher kommen diese Triebe dann aber, wenn nicht von Gott? Warum gibt Gott manchen Menschen Begierden, die er für verwerflich hält?“
„Sie vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit Bildern eines
vergänglichen Menschen. Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus. Die Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander. Römerbrief 1,23.“
Und wieder schauten sie einander beglückt an, denn sie hatten die
Antwort in ihrer Bibel gleich gefunden. Ich begann, diesen Gott reichlich perfide zu finden, der die Ungläubigen mit Trieben straft, die in seinen Augen Sünde sind – nur um sie nachher noch mit Tod und Höllenfeuerein zweites Mal peinigen zu können. Ich entschloss mich, die Strategie zu wechseln:
„Jetzt mal Gott beiseite: Hat ihnen ein homosexueller Mensch je etwas böses getan?“
„Nein, aber… entschuldigen sie, das hat Gott nicht gewollt. Wenn sich zwei Männer küssen, das ist doch ekelhaft.“
„Gut, es wäre sicher nichts für mich… aber: bei zwei Frauen, meinen sie nicht, da drückt Gott ein Auge zu und schielt mit dem zweiten?“ fragte ich schelmisch.
Wieder schüttelte es die beiden Damen.
„Im ernst: ich finde auch Menschen eklig, die Muscheln schlürfen; nur weil ich etwas eklig finde, ist das noch lange kein Grund, es zur Sünde zu erklären.“
„Ihr sollt nicht essen, was aus dem Meer kommt, doch weder Schuppen noch Flossen hat. Levitikus 11,10.“ – „Und Deuteronomium 14,11!“, fügte die zweite schnell hinzu. Gott schien mit seiner Abneigung gegen Meeresfrüchte auf meiner Seite zu sein. Andererseits: Heuschrecken, Gazellen und Lämmchen zu schlachten, findet er okay. Levitikus 11,22. … Gott und ich könnten uns nie auf ein gemeinsames Buffet einigen.
„Darf ich sie etwas Privates fragen?“
„Nur zu, junger Mann, fragen sie!“
„Gott hat also Mann und Frau als Paar geschaffen, damit sie sich vermehren können und nach seinem Gesetz leben.“
„Ja.“
„Wenn ich so indiskret sein darf: Sie sind etwa 70 Jahre alt…“
„74!“rief sie lächelnd aus und war offenbar geschmeichelt.
„…sie haben also sicher einen liebenden Mann, Kinder und auch Enkel?“
Sie stockte einige Sekunden. Und mit mütterlich-sinnierendem Tonfall erklärte sie mir, dass es nur einen Mann in ihrem Leben gegeben habe. Da sei sie 18 Jahre alt gewesen. Aber Gott habe ihr gezeigt, dass er nicht der richtige war. Und seitdem war sie allein geblieben.
„Haben sie es je mit Frauen ausprobiert?“ hakte ich nach und biss mir augenblicklich auf die Zunge. Sie wurde rot … und ich wusste nicht, ob vor Wut … oder vor Scham. Mein Bus kam, ich verabschiedete mich eilig und ging zur Haltestelle. Ich war ja noch zum Essen eingeladen.
Sie tat mir leid, die alte Dame, dass sie über 50 Jahre lang auf alle leiblichen Freuden verzichtet hatte. Was mich jedoch ekelte, war, dass sie der Welt jene Beziehungsratschläge und Sexualmoral aufzwingen wollte, die sie in ihrem antiken Mythenbuch gefunden hatte.
Eine Paartherapeutin mit Soziophobie. Prost Mahlzeit.
Ein Mensch mit Höhenangst wird schließlich auch kein guter Fluglehrer, nur weil er mal ein Buch über Zugvögel gelesen hat.
Als ich bei Florian und Tom klingelte, öffnete ihr vierjähriger Sohn grinsend die Tür.
Es gab Muscheln.
Na, habe ich zuviel versprochen? Es hat sich gelohnt, das zu lesen. Noch besser ist nur, das von Falko live zu hören. Wer die Gelegenheit hat, unbedingt hingehen.
Aber auch ernsthaft kann Falko richtig gut. Hier ein Video mit ihm, in dem die Pascalsche Wette auseinander genommen wird. Er ist der ist der Typ mit dem Bart.