Heute gibt es das Wort zum Freitag mal wieder gesprochen. Käptn Chaos hat dabei ein euch vielleicht nicht unbekanntes Format aufgehübscht. 😉
Für alle, die lieber lesen als hören:

„Rudolf Steiner, der Jesus Christus des kleinen Mannes, ist in Paris gewesen und hat einen Vortrag gehalten. […] Ich habe so etwas von einem unüberzeugten Menschen überhaupt noch nicht gesehen. Die ganze Dauer des Vortrages hindurch ging mir das nicht aus dem Kopf: Aber der glaubt sich ja kein Wort von dem, was er da spricht! (Und da tut er auch recht daran.) […] Wenns mulmig wurde, rettete sich Steiner in diese unendlichen Kopula, über die schon Schopenhauer so wettern konnte: das Fühlen, das Denken, das Wollen – das ‚Seelisch-Geistige‘, das Sein. Je größer der Begriff, desto kleiner bekanntlich sein Inhalt – und er hantierte mit Riesenbegriffen. Man sagt, Herr Steiner sei Autodidakt. Als man dem sehr witzigen Professor Bonhoeffer in Berlin das einmal von einem Kollegen berichtete, sagte er: ‚Dann hat er einen sehr schlechten Lehrer gehabt -!‘ Und der Dreigegliederte redete und redete. Und [der bekannte Journalist Jules] Sauerwein übersetzte und übersetzte. Aber es half ihnen nichts. Dieses wolkige Zeug ist nun gar nichts für die raisonablen Franzosen. […]
Was für eine Zeit -! Ein Kerl etwa wie ein armer Schauspieler […], Alles aus zweiter Hand, ärmlich, schlecht stilisiert … Und das hat Anhänger -! […] Der Redner eilte zum Schluss und schwoll mächtig an. Wenns auf der Operettenbühne laut wird, weiß man: Das Finale naht. Auch hier nahte es mit gar mächtigem Getön und einer falsch psalmodierenden Predigerstimme, die keinen Komödianten lehren konnte. Man war versucht zu rufen: Danke – ich kaufe nichts.“
– Kurt Tucholsky
Liebe Freunde,
die Welt, in der wir leben, ist voll von Menschen, die uns besser zu kennen scheinen als wir selbst uns kennen:
Religiöse Vereine, Sekten und Esoterikclubs besorgen sich Tapeziertische und tapezieren damit die Fußgängerzonen unserer Innenstädte zu. Auf den Straßenstand mit der „Frohen Botschaft“, der von der Erlösung durch Jesus Christus zu frohlocken versucht, folgt ein weiterer Stand, vor dem ein mannshohes Plakat mit der Aufforderung „Lies!“ – also „Lies!“ im Sinne von „Lies das Buch!“, nicht etwa vom englischen Wort „Lies!“ für „alles Lüge!“ –  dazu ermuntern soll, sich dem Koran zuzuwenden, den es dort praktischerweise gleich kostenlos dazu gibt.
Wiederum einige Schritte weiter finden wir den Stand der Zeugen Jehovas, der Bücher und andere Produkte aus dem Wachtturm-Verlag feil bietet; noch einen Stand weiter bekommen wir – dort allerdings nur gegen eine erhebliche finanzielle Offerte – das Buch „Dianetik“ von L. Ron Hubbard zu lesen und finden Anschluss an ein E-Meter, dass uns labile Psyche und Selbstmordtendenzen attestiert.
All diesen Heilsversprechern ist jedoch zu eigen, dass sie allesamt für sich beanspruchen, alleinig im Recht zu sein. Nun – nehmen wir es ihnen nicht allzu übel. Jeder kann sich mal versprechen.
Aber sind nicht dennoch Zweifel geboten an der Richtigkeit derartiger allein gestellter seligmachender Gedanken?
Seligmachende Gedanken, wie auch Rudolf Steiner sie von sich zu geben wusste. Rudolf Steiner, ein Esoteriker und selbsternanntes Universalgenie. Doch wer war dieser Mann, der der Esoterik, der Kunst, die uns von Wünschelrutengang und Elektrosensibilität, von aryuvedischer Medizin und Bachblüten sowie von einer Hohlen Erde, von gefährlichen Chemtrails und von Hitlers Reichsflugscheiben bei Tee und Kerzenschein zu berichten wusste, so zugeneigt war, dass er eine ganze Weltanschauung daraus strickte?
Rudolf Steiner studierte an der Technischen Hochschule in Wien Mathematik und Naturwissenschaften – wen nähme es Wunder – auf Lehramt. Daneben besuchte er als Gasthörer aber auch verschiedentliche Veranstaltungen zu Philosophie, Literatur und Geschichte. Großes Interesse zeigte Steiner insbesondere für die Schriften Johann Wolfgang von Goethes sowie – man höre und staune – Friedrich Nietzsches, der damals, kurz vor der vorletzten Jahrhundertwende, auf dem Höhepunkt seiner Unbeliebtheit, ja Unbekanntheit stand.
Und so wundert es kaum, dass Rudolf Steiner in den Jahren als Herausgeber für Goethes naturwissenschaftliche Schriften fungierte. Denn Goethe war zu seiner Zeit ein recht fortschrittlicher Naturforscher gewesen, was Rudolf Steiner allerdings – mehr als 50 Jahre nach dessen Ableben – keinesfalls dazu bewegte, dessen naturwissenschaftliche Ansichten unter auch seinerzeit moderneren Ansätzen zu sehen. Böse Zungen behaupten gar, dass Steiner in seinen Einleitungen zu Goethes Werken gar nicht dessen Ansichten vertreten habe, sondern seine eigenen.
Einer der tragenden Pfeiler allen wissenschaftlichen Arbeitens ist das Prinzip der Falsifizierbarkeit. „Falsifizierbarkeit“ bedeutet: Ein Wissenschaftler stellt eine wie auch immer geartete Hypothese oder Behauptung auf. Damit die Wissenschaft nun sicher stellen kann, dass diese neue Hypothese auch richtig hergeleitet wurde, versuchen die Kollegen dieses Wissenschaftlers in der Folge, die neue Hypothese „kaputtzutesten“. Sie werden jedes erdenkliche Verfahren, jede erdenkliche Rechnung und jede Möglichkeit suchen, um die neue Hypothese zu widerlegen. Wenn die Hypothese diesem Test standhält, erlangt sie Gültigkeit – erst dann.
Dieses Prinzip mag für den wissenschaftlichen Laien seltsam zerstörerisch und weltfremd wirken. Aber es ist genau dieses Prinzip, dass unsere wissenschaftlich-technische Entwicklung in den letzten zwei- bis dreihundert Jahren so entscheidend nach vorn gebracht hat. Ja –  die meistgetestete Hypothese in der gesamten Wissenschaft ist gleichzeitig eine der ungewöhnlichsten: die einsteinsche Relativitätstheorie.  Jene Theorie, die unser gesamtes Weltbild für immer verändert und den Mensch aus dem Mittelpunkt wissenschaftlicher Forschung eliminiert hat; jene Theorie, die uns deutlich vor Augen führt, dass wir denen eben nicht trauen können; dass nichts so ist, wie es (uns Menschen) scheint. Jene Theorie auch, der wir einen gut Teil unserer modernen Errungenschaften verdanken, unter anderem Computer, Smartphones und – ja – auch die Entwicklung von Kernfission und Kernfusion.
Die Relativitätstheorie erklärt uns die Verknüpfung und Untrennbarkeit von Raum und Zeit; sie zeigt uns auf, dass wir Menschen die Welt niemals so sehen können, wie sie wirklich ist. Sie zeigt uns, dass auch wir nur Objekte einer neutralen, forschenden Wissenschaft sind und sein können; dass Goethe sich geirrt hat, wenn er noch – im besten Sinne freilich – der Meinung war, dass nur wissenschaftlich zu erforschen sinnvoll sei, was des Menschen Auge selbst erfassen könnte. Dies sei ihm freilich verziehen, jenem großen Dichter und Denker aus Weimar, denn er kannte Einstein noch nicht.
Rudolf Steiner schon.
Steiner und seine Anhänger, die sich selbst als „Anthroposophen“ bezeichnen, wollen eben dieses wissenschaftliche Prinzip des Zweifels konterkarieren. Ihrer Meinung nach steht der Mensch im Zentrum aller menschlichen Betrachtung – eine Sichtweise, die zu Zeiten Goethes in der Tat noch sehr modern war in der naturwissenschaftlichen Forschung, die von Rudolf Steiner lange nach Goethe noch immer unverändert vertreten wurde und von Steiners Anhängern weitere einhundert Jahre später noch immer quasi-unverändert vertreten wird, in geradezu dogmatischer Auslegung.
Anthroposophen wollen Steiners Anhänger als „Geisteswissenschaft“ verstanden wissen. Dahinter versteckt sich vermutlich das Bestreben, der wissenschaftlich-technischen Entwicklung einen Riegel vorzuschieben. Eine halbwegs fundierte Begründung vermisst man dabei ebenso wie einen weiter führenden Sinn; Inhalt und Ziel der Anthroposophie ist, stark vereinfacht, das harmonische Eins-Sein des Menschen mit dem Kosmos. Das ist es, was Tucholski eingangs mit „das Fühlen, das Denken, das Wollen – das ‚Seelisch-Geistige‘, das Sein“ umschrieben haben wollte, und was ihn – zu Recht! – so anekelte.
Die eigene Selbstbeweihräucherung der Anthroposophen findet man bei denselben mehr als hinreichend vertreten. Wie man es halt kennt von religiösen Splittergruppen, und da nehme ich nicht einmal uns Pastafari aus, liebe Freunde.
Wer mir nicht glauben mag, der besuche die Seite waldorfwilhelmsburg.de, auf der Christiane Leiste schon heute weiß, dass in einem Schulversuch an einer staatlichen Schule Waldorfpädagogik ein prägendes Element an einer staatlich getragenen Schule sein wird, in einem Schulversuch ab August 2014.
Offiziell ist davon freilich noch gar nichts, aber das hindert die Waldorfinitiative nicht daran, auf eigene Faust bereits Stellen für zwei Waldorflehrerinnen mit 2. Staatsexamen ausgeschrieben zu haben.
Es ist Zeit,  gegen dieses Aufweichen der wissenschaftlichen Kultur die Fahne der Piraten zu hissen. Denn vergleichen wir die Errungenschaften der modernen Wissenschaft mit denen der Anthroposophie, so kommen wir bei Letzteren zu Wollsocken und Filz, zum Musizieren mit fünf statt zwölf Tönen und finden eine völlig arhythmische Bewegungskultur, die der anthroposophische Laie als „Namen tanzen“ und der Fachmann als „Eurythmie“ kennt. Die moderne Wissenschaft kontert im gleichen Zeitraum mit der Entwicklung von Raketen, dem Internet und gewaltigen Fortschritten in der Medizin – von den Forschungsergebnissen über Beschaffenheit und Ursprung des Kosmos‘ einmal ganz zu schweigen.
Bildung ist ein Staatsauftrag und der Staat ist säkular. Was die Waldorfinitiative hier plant ist ein Unterhöhlen dieser staatlichen Bildungsautorität. In der Folge können (und werden) ähnliche religiöse und / oder esoterische Gruppierungen versuchen, dem Staat mehr und mehr vom Bildungsmonopol abzutrotzen, sodass Bildung zum beliebigen Kassenschlager werden könnte. Angesichts der fast schon alljährlichen Aufregung um die PISA-Ergebnisse eine skurrile Entwicklung.
Der Prophet Bobby Henderson wandte sich einst mit einem Brief an die entsprechenden Behörden in Kansas, um gegen  eine Unterwanderung des amerikanischen Bildungssystems durch kreationistische Christen zu protestieren. Tun wir es ihm gleich! Schreiben wir an den Schulsenator! Schlagen wir Alarm, rütteln wir die Bevölkerung wach! Eine Unterwanderung des staatlichen Bildungsmonopols durch eine esoterische Sekte kann und darf es nicht geben!
Schließen möchte ich mit den Worten eines weiteren großen deutschen Dichters und Denkers, dem interessanterweise oft vorgehalten wurde, dass er sich in seinen Schriften mit Steiner solidarisiert habe. Aber unter wahren Dichtern und Denkern scheint die Meinung über Rudolf Steiner recht massiv in eine Richtung gegangen zu sein, wie man nach der Lektüre folgenden Zitats zu denken geneigt ist:
 „Anthroposophische, Steinersche Quellen habe ich nie benützt, sie sind für mich ungenießbar, die Welt und Literatur ist reich an echten, sauberen, guten und authentischen Quellen, es bedarf für den, der Mut und Geduld hat, selber zu suchen, der ‚okkulten‘ und dabei meist elend getrübten Quellen nicht. Ich kenne sehr liebe Leute, die Steinerverehrer sind, aber für mich hat dieser krampfhafte Magier und überanstrengte Willensmensch nie einen Moment etwas vom Begnadeten gehabt, im Gegenteil.“
Hermann Hesse

Quellenangaben:

http://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Steiner
http://www.waldorfwilhelmsburg.de
beide zuletzt abgerufen am 17. 09. 2013