„Die Sitzung ist eröffnet.
Herr Staatsanwalt, bitte lesen Sie den ersten Anklagepunkt vor.“
„Dem Angeklagten wird vorgeworfen, den Tod seiner beiden Kinder fahrlässig – wenn nicht sogar mutwillig herbeigeführt zu haben, indem er ihnen in seiner Abwesenheit heimtückisch eine tödliche Falle stellte, obwohl er sich hätte denken können, dass sie in diese hineintappen würden. Es wird ihm deshalb die Misshandlung Schutzbefohlener vorgeworfen in Tateinheit mit Todesfolge.“
„Als erster Zeuge hat der Kripobeamte das Wort, der auch das Verhör mit dem Angeklagten geführt hat und dessen Personalien dem Gericht bereits bekannt sind.“
„Ich weise Sie darauf hin, dass Sie unter Eid stehen. Bitte schildern Sie dem Gericht, was bei der Vernehmung des Beschuldigten herauskam.“
„Wir hatten den Angeklagten zunächst über seine Rechte belehrt. Dann baten wir ihn, uns zu berichten, wie es zu diesem tragischen Unfall kam. Er gab zu Protokoll, dass er seinen Kindern an jenem Morgen gesagt hatte, dass sie von allen Dingen im Kühlschrank nach Belieben essen dürfen. Nur von dem Kinderüberraschungs-Ei, das er in die Mitte des Kühlschranks platziert hatte, sollten sie nicht essen und es noch nicht einmal berühren. Er warnte sie auch, dass welchen Tages sie davon essen werden, würden sie gewisslich sterben. Er hatte das Ei nämlich mit Blausäure vergiftet und die Verpackung noch zusätzlich mit Sarin bestrichen, einem extrem tödlichen Nervengift.
Auf unsere Frage, warum er seine Kinder einer so großen Gefahr ausgesetzt hat, hat er geantwortet, dass er seine Kinder prüfen wollte, ob sie sich von den Einflüsterungen der Werbung verlocken lassen würden, seine klaren Anweisungen zu missachten oder ob sie seinem Worte glauben und gehorchen würden. Um sie dabei zu beobachten, hatte er zuvor auch eine Kamera installiert, weil er genau beobachten wollte, wie sie sich verhalten würden.“
„Eine kurze Zwischenfrage an den Zeugen: Ist es demnach so, dass der Angeklagte noch die Möglichkeit hatte, rechtzeitig einzugreifen, als er vom Nebenzimmer aus beobachtete, wie seine Kinder in Versuchung gerieten?“
„Ja, das hatten wir ihn auch gefragt, und er hat diese Frage bejaht.“
„Dann bittet die Staatsanwaltschaft das Gericht um die Feststellung, dass sogar im Moment der größten Gefahr der Beschuldigte den Tod seiner Kinder billigend in Kauf nahm! Der Zeuge möge fortfahren.“
„Wir fragten den Angeklagten, warum er denn nicht eine Attrappe verwendet habe, also einen unwirksamen Placebo, wenn er denn schon unbedingt herausfinden müsse, ob seine Kinder ihm treu ergeben sein würden. Er entgegnete, dass er ganz bewusst sich für eine unumkehrbare Strafe entschieden habe, weil er der Meinung sei, dass ein Ungehorsam gegen seine Anweisungen – und sei dieser auch noch so geringfügig – eine für ihn unerträgliche persönliche Kränkung darstellen würde und ein Fortbestehen der Beziehung zu seinen Kindern in seinen Augen unmöglich mache.
Wir fragten ihn, ob er sich denn nicht hätte denken können, dass seine Kinder schon allein aus reiner Neugier versuchen würden, vom Überraschungs-Ei zu naschen, schließlich seien es doch noch Kinder, welche die Folgen für ihr Handeln noch gar nicht in ihrer ganzen Tragweite abschätzen könnten.
Diese Feststellung ließ der Beschuldigte jedoch nicht gelten, sondern verwies darauf, dass sie doch schon einen freien Willen hätten, um sich für oder gegen ihren Vater zu entscheiden.
Wir versuchten ihn daraufhin zu erklären, dass man die Liebesbeziehung zwischen Kindern zu ihrem Vater doch nicht vergleichen könne mit erwachsenen Bürgern, die z.B. einen Politiker wählen oder abwählen können. Kinder können und dürfen doch schließlich Fehler machen, weil sie noch Kinder sind und noch nicht zwischen Gutem und Bösen unterscheiden können. Daher müsse ein liebender Vater Geduld mit ihnen üben, anstatt ihnen durch ein krankhaftes Misstrauen ein schlechtes Vorbild zu geben. Der Angeklagte zeigte sich jedoch uneinsichtig, indem er darlegte, er wolle „keine Marionetten“ haben, die ihn nur lieben würden, weil er ihnen dieses befohlen habe.
Da merkten wir, dass er im Grunde überhaupt keine Ahnung hatte von der Liebe, sondern unter erheblichen Minderwertigkeitsgefühlen litt, so dass er – krankhaft eifersüchtig – nur darauf versessen war, selber geliebt zu werden – gänzlich unfähig selbst Liebe zu geben.“
„Einspruch! Dem Zeugen steht es nicht an, Mutmaßungen über das seelische Befinden des Angeklagten zu äußern, schließlich ist er kein Psychologe sondern nur Kriminalist.“
„Einspruch stattgegeben! Herr Zeuge, beschränken sie sich bitte auf die Tatsachen.“
„Nun ja, wir fragten ihn, was denn sein Marionettenvergleich mit seiner Fürsorgepflicht zu tun habe. Außerdem würde er durch seine repressiven Todesdrohungen doch erst recht bewirken, dass seine Kinder ihn nicht aus Liebe sondern nur aus Angst gehorchen würden, so dass er nie erfahren würde, ob sie ihn wirklich freiwillig lieben. Im Gegenteil sogar: er würde sich durch seine Todesandrohungen doch erst recht der Liebe unwürdig erweisen, weil man an ihm nichts fände, was der Liebe wert wäre.
Daraufhin wurde der Beklagte nachdenklich und fing bald darauf an zu weinen.
Wir fragten ihn, ob er über seine toten Kinder weine. Er sagte, nein, sondern darüber, dass sie ihn vor ihrem Tode – wenn schon keine Liebe – dann doch wohl wenigstens Respekt hätten entgegenbringen müssen. Stattdessen hatten sie, kurz bevor sie starben, ihn auch noch beleidigt, indem sie ihm vorwarfen, dass es seine Schuld sei, dass sie sterben würden, weil er ihnen diese tödliche Falle gestellt habe.“
„Und was sagte er, wie hat er darauf reagiert?“
„Er hat sie verflucht und ihnen gewünscht, dass sie qualvoll krepieren mögen.“
„Danke, Zeuge, das genügt; sie können sich wieder setzen. Hohes Gericht, die Staatsanwaltschaft zieht hiermit die Anklage auf Mord zurück und beantragt stattdessen aufgrund der Zeugenaussage den Angeklagten in eine geschlossene Psychiatrie einweisen zu lassen, da er aufgrund seiner wahnhaften Eifersucht zum Zeitpunkt der Tat nur vermindert schuldfähig war, da er auch keinerlei Unrechtsbewusstsein hatte.“
„Wo befindet sich der Beschuldigte im Moment?“
„Wir hatten ihn zunächst festgenommen, mussten ihn später jedoch wieder freilassen, da keine Fluchtgefahr bestand. Dies erwies sich leider als großer Fehler, wie sich dann herausstellte!“
„Herr Staatsanwalt, bitte fahren sie fort mit den nächsten Anklagepunkten: Nötigung und Völkermord…“